Die Rückkehr zur Emotion

Der Mensch rückt zunehmend ins Zentrum der digitalisierten Welt, lautet die zentrale Erkenntnis des Innovationstages 2021.

 

Worte, die eine Trendwende einläuten? „Wir brauchen eine neue Romantik“, forderte Tim Leberecht in seiner Keynote. Der Autor und Berater stellte gleich zu Beginn des Innovationstages die große Sinnfrage nach der Messbarkeit des Guten: Ist die Produktivität das Maß aller Dinge, oder nicht viel mehr das Wohlbefinden der Menschen in ihrem Alltag? Fakt ist: Wir verlieren die jahrzehntelang gelernte Tradition von klassischen Jobs. Schnellere Beziehungen und schnelleres Loslassen werden unser Alltag sein. Er formuliert drei Thesen seiner Business-Romantik: Tue das Unnötige! Schaffe Intimität! Lass los!

 

Die Entzauberung des Optimierungswahns

 

Die Gegenpole zum rastlosen Rennen um die Daueroptimierung haben sich unterdessen längst etwa in der Jugendkultur dank Social Media formiert. Junge Menschen politisieren sich zudem zunehmend früh und mit starkem Engagement, wie etwa die Initiativen zum Klimawandel zeigen. Mit der vergangenen Bundestagswahl findet auch hier eine Zeitenwende statt: Die etablierten Volksparteien erleben den starken Veränderungswillen der jungen Wähler:innen, die ihnen Digitalisierung und Klimabewusstsein mit ihrer Abstimmung an der Wahlurne ins Stammbuch schreiben. „Das Wählerpotenzial der Volksparteien ist damit wieder größer geworden“, analysierten Judith Wittwer, Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung und Carsten Knop, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, unisono.

 

Neue Identifikationsmuster schaffen

 

Das aufflammende Bewusstsein für die drängenden Themen unserer Zeit trägt großes Veränderungspotenzial in sich. „Wir wurden ja schon immer gesellschaftlich konstruiert“, erklärte die Bestseller-Autorin und Gründerin des Center für Intersectional Justice Dr. Emilia Roig. Ein hierarchisches Gesellschaftssystem, das nach Alter, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht, Hautfarbe oder gar Behinderung hierarchisch aufgebaut ist, muss aus ihrer Sicht endlich passé sein. Ana-Cristina Grohnert, Vorsitzende der Arbeitgeberinitiative „Charta der Vielfalt“ erklärt: „Diversity und Inklusion sind keine Charity-Programme, sondern ein knallharter Erfolgsfaktor für Unternehmen.“ Diversity werde in den nächsten Jahren massive Veränderungen auslösen. „Benötigt wird eine Organisationskultur, die die Vielfalt zum Leben bringt.“ Dass die Kraft eines divers aufgestellten Teams Berge versetzen kann, beobachtet Tijen Onaran täglich. Die Aktivistin hat das Frauen-Netzwerk Global Digital Women gegründet und schon mehr als 30.000 Frauen untereinander und mit der Wirtschaft vernetzt. „Diverse Teams sind krisenresistenter. Es gibt zahlreiche Studien, die den Zusammenhang von Diversität und Innovationskraft aufzeigen. Je diverser Teams sind, desto besser die Resultate.“ Ihr Leitsatz: Marken brauchen Diversität für die Customer Experience.

 

Marken als Anker für Zukunftsthemen

 

Eine Marke sicher durch die digitale Transformation zu führen, ist eine Herkulesaufgabe. „Die größte Herausforderung ist, ein dauerhaftes Profil aufzubauen“, so Michael Bohn, Marketingleiter Central Europe bei Bosch Haushaltsgeräte. Er weiß, wovon er spricht: 2017 wurde Bosch zum zweiten Mal von den Konsument:innen zur Most Trusted Brand gewählt. Sicher auch deshalb, weil der Hersteller sich dem neuen Megatrend Healthification verschrieben hat. Kein Zweifel: Healthification hält uns derzeit in Atem wie kaum ein anderes Thema. Das Silicon Valley hat daran einen beträchtlichen Anteil. „Was noch vor kurzem wie Science Fiction klang, ist plötzlich machbar“, resümierte Spiegel-Korrespondent Thomas Schulz. Getrieben von Robotik und Chemie sind durch Quanten-Computer tatsächlich Quantensprünge in der Medizin akut. Durch die automatisierte Geschwindigkeit und ihre Genauigkeit wird Datenforschung in ihrer Exaktheit geradezu faszinierend: Etwa wenn globale Alzheimer-Studien machbar sind, von denen bislang 99 Prozent weltweit an der Datenlast gescheitert sind, so Schulz.

 

Hybrid denken, hybrid agieren

 

Neue Produkte durch neue Technologien – das wird nicht nur die Medizin grundlegend verändern. Auch unsere alltäglichen Einkaufswelten morphen zunehmend zu einer hybriden Erlebniswelt. „Der physische Shop ist nicht mehr länger das Zentrum des Markenkosmos, es ist das Produkt selbst“, sagt die renommierte Retail-Expertin Cate Trotter, Head of Trends bei der Zukunftsagentur Insider Trends.

 

Neue Kontexte verändern alte Denkwelten

 

Für das Altbekannte neue Kontexte zu kreieren, steht auch im Zentrum des Schaffens von Raphael Gielgen. Der Trendscout Future of Work Life & Learn bei Vitra ist ständig am Puls der Zeit. Er ist Experte rund um das Thema „New Work“. Das Büro hält er für ein sich überlebendes Modell. „Es wird kein physischer Ort mehr sein, die Räumlichkeiten verlieren ihr Monopol auf Arbeit.“ Sein Credo: „Die Stadt ist das Büro.“ Es entstünden neue Quartiere, die Arbeit vom Ergebnis her denken. Sein Wunsch ist, groß zu denken: „Ich hoffe, dass ein Ruck durch die Arbeitswelt geht und wir uns noch einmal neu erfinden.“

 

Den Schlussakkord eines beeindruckenden Tages lieferte der „Malerfürst“ der deutschen Kunstszene, Prof. Markus Lüpertz, im Gespräch mit Serviceplan Group Chief Creative Officer Alex Schill: Nichts langweilt den Künstler mehr als die täglich träge mäandernde Melange von austauschbaren Inhalten in der gesellschaftlichen Kommunikation. Daher sein dringlicher Appell: „Wir müssen wieder Sehnsucht herstellen.“ Mit diesem Resümee schloss Lüpertz den Kreis zu den Erkenntnissen des Innovationstages: Die digitale Welt muss den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen.