Werbung zwischen zwei Welten
Wo sind die Unterschiede, wo die Gemeinsamkeiten zwischen der Werbung in den USA und in Europa? Stefan Schütte über Patriotismus, gesellschaftlichen Wandel und den American Dream.
Da sind Sie also endlich, abgekämpft, aber glücklich. Sie sind nach einem langen Flug tatsächlich einmal wieder in den USA. Und wahrscheinlich haben Sie jetzt noch einen ganzen Nachmittag, um in ein verändertes Amerika einzutauchen. Sie machen den Fernseher im Hotelzimmer an. Wenn Sie es schaffen, hinter den vielen Streaming Optionen einen Live TV Sender zu finden, merken Sie vielleicht – bei der Werbung hier hat sich auf den ersten Blick nicht viel verändert.
1. Pathos
Sie werden Spots sehen, die vor allem in Deutschland aus historischen Gründen undenkbar wären. Patriotismus, das Hoch auf „The Greatest Nation On Earth“, ob vorgetragen von Bieren, Grills oder Pick-up-Trucks. Vieles gipfelt in Weißkopf-Seeadlern, majestätisch in Slow-Motion wehenden Flaggen und vom Nationalstolz ergriffenen Familien. In einer pluralistischen Gesellschaft mit einer durch Migration explosiv wachsenden Bevölkerung ist der Stolz auf die neue Heimat der alte Kit, der immer noch alles zusammenhält.
2. Sales
Dass man Sie in lokal zugespielten Spots zwischendurch auch regelrecht anschreit, nun auch endlich einmal etwas zu kaufen, ist die Kehrseite vom American Dream. Von aggressiv auf Sie zeigenden Autohändler:innen und überlegen lächelnden Staranwält:innen, von schmierigen Schönheitschirurg:innen bis zum Last Exit Schuldenberatungs-Service. Jede:r will etwas von Ihnen und auch, wenn wir Europäer:innen mittlerweile auch einiges gewohnt sind:
So dreist und so penetrant können es nur die Amerikaner:innen.
Und dann verlassen Sie Ihr Hotelzimmer und sehen, was sich wirklich getan hat. Dass Instagram und Facebook Ihnen längst auf Ihre Präferenzen abgestimmte Botschaften unterjubeln, kennen Sie zwar.
Aber Sie bekommen viel mehr gesellschaftlich und kulturell relevanten Content als in den meisten europäischen Ländern der Fall ist.
3. Change
Sie erleben eine Gesellschaft, die nicht mehr „one size fits all“ sein will wie im linearen Fernseh-Werbeblock. Sie erleben aufrüttelnde Botschaften der Unterdrückung und des Missbrauchs – von Macht, Geld und Herkunft. Sie erleben Menschen, die mit Ihnen gemeinsam aufbegehren wollen gegen das Corporate America, gegen den Mainstream von Politik, Weltanschauung, Geschlechter-Stereotypen, Karriere. Die Ihre Unterstützung suchen und Sie in ihrer Community wollen.
4. Transformation
Doch der amerikanische Traum ist immer noch mit dem Streben nach Wohlstand und Aufstieg verbunden. Ihnen wird auffallen, wie viele Fintechs Sie dazu auffordern werden, mit Ihnen Geld zu machen, zu verschicken, zu verwalten oder anzulegen. Und der dazu notwendige materielle Wohlstand bleibt erklärtes Ziel auch einer divers nachwachsenden Generation. Folgerichtig erleben Sie Unmengen an Weiterbildungsangeboten – Sprache, Skills, Persönlichkeit, Karriere – privatwirtschaftlich oder institutionell vorgetragen. Damit Sie sich in einer im Kern immer noch eindeutig auf Transaktion ausgerichteten Gesellschaft nicht abhängen lassen.
Nach so viel Widerspruch tut es gut, einmal hinter die Kulissen zu schauen, in ein typisches Meeting mit Kunden. Sie werden etwas spüren, was in den deutschen Boardrooms – und generell in der europäischen Marketingkultur – wenig ausgeprägt ist.
5. Liebe
Eine Agentur präsentiert ihre Idee. Die Kund:innen weinen vor Rührung. Die Filmproduktion hat eine Idee, die Idee besser zu machen. Die Kund:innen bezahlen bereitwillig die Mehrkosten. Matt Damon soll in den Film. Aber natürlich! Sagt zum Beispiel Crypto.com, einer der neuesten Kunden unserer amerikanischen Serviceplan-Agentur Pereira O’Dell. Und dann werden Geschichten erzählt, wie es nur die Amerikaner:innen können. Grandios ausgestattet, fett inszeniert und voller Liebe. Zur Werbung. Denn hier ist Advertising etwas, bei dem man nicht verschämt wegschaut. Egal, ob gerade Superbowl ist oder nicht.
Autor: Stefan Schütte, Managing Partner Saint Elmo’s Gruppe
Stefan Schütte war von 2018 bis 2021 in den USA, um für die Serviceplan Group die US Operations aufzubauen. Heute hat das US-Geschäft mehrere Standorte an beiden Küsten und mit Pereira O’Dell ein kreatives Flaggschiff von Weltrang. Und Stefan Schütte mit der Entwicklung der Saint Elmo’s Gruppe eine neue spannende Aufgabe in München.