Für Europa gibt es kein «one size fits all»

Die transatlantische Beziehung kehrt zu einer neuen Normalität zurück. Mediaplaner*innen beider Seiten blicken über den Atlantik, um neue Einblicke in Innovationen, neue Ansätze im Targeting und Lösungen für Markenauftritte in beiden Märkten zu finden. Phil Cowdell, CEO Mediaplus Americas, spricht im Interview über kommende Herausforderungen.

 

 

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind heute stärker entzweit als je zuvor. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Mediaplanung, um eine derart polarisierte Bevölkerung anzusprechen?

 

Phil Cowdell: Zur Bestimmung von Zielgruppen und deren Ansprache nutzen Mediaplaner*innen üblicherweise Forschungsergebnisse basierend auf demografischen Daten wie Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen und durchschnittlichem Medienkonsum. Aber dieses Bild des «durchschnittlichen Amerikaners» kann sehr irreführend sein. Nehmen wir an, wir wollten Personen des C-Levels zu Nachhaltigkeit und Unternehmenstransformation ansprechen. Ein typisches Targeting würde diese Zielgruppe folgendermassen beschreiben: Tendenziell männliche «Wall Street Journal» Leser um die 50 mit höherem Bildungsabschluss und einem Einkommen über 150.000 Dollar. Dieses Targeting wäre jedoch nicht korrekt. Die heutigen «Dis-united States of America» sind in ihren Überzeugungen gespalten, sowohl politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich oder kulturell. Wir befinden uns in einer postfaktischen Zeit, in der Meinungen wichtiger geworden sind als Sachargumente. Amerika splittet sich nun in neue Kategorien auf: Gutgläubige, Zögernde, Skeptiker*innen und Gegner*innen von bestimmten Überzeugungen und Werten. Zum Beispiel – um auf unsere C-Level-Zielgruppe zurückzukommen – glauben derzeit doppelt so viele Männer wie Frauen, dass «die globale Erwärmung eine Lüge ist» – und unter Geschäftsleuten, die mehr als 150.000 Dollar verdienen, erreicht diese Zahl 37 Prozent. Es wäre also gleichermassen unklug als auch höchst ineffektiv, Befürworter*innen und Gegner*innen eines Themas in eine soziodemografische Zielgruppe zu packen.

 

 

Was sind die grössten Eintrittsbarrieren für europäische Marken, wenn sie den US-Markt erobern wollen?

 

Phil Cowdell: Bis jetzt war die grösste Hürde für ausländische Marken beim Eintritt in die USA der Vertrieb. Aber E-Commerce hat dazu beigetragen, diese Barriere zu reduzieren. Sei es durch eine eigene «Shopify»-Seite oder durch Amazon. Der nächste Schritt für neue Brands ist nun, den Kampf um den «Share of Voice» gegen einheimische und etablierte Marken zu gewinnen. Es ist ein viel zitiertes Marketing-Gesetz, zuletzt durch Brian Sharp in seinem Buch «How Brands Grow», dass kleine Marken mit einem geringen Marktanteil zugleich auch eine schwache Markenbindung bei Kund*innen aufweisen. Diesem doppelten Risiko für neue Marken kann man nicht mit konventionellen Methoden begegnen. Um den Kampf um den «Share of Voice» zu gewinnen, zählen intelligente Ideen und nicht die Grösse des Geldbeutels. In Amerikas wettbewerbsintensivem Einzelhandel und Werbemarkt ist unkonventionelles Denken der Schlüssel zum Erfolg. Vermarkter und ihre Agenturen müssen deshalb das Überzeugungssystem ihrer Zielgruppen analysieren und verstehen, um darin mit intelligenten und motivierenden Lösungen erfolgreich zu agieren.

 

 

Und was sind umgekehrt die grössten Barrieren für US-Marken auf dem europäischen Markt?

 

Phil Cowdell: Die Notwendigkeit, eine Zielgruppe wirklich zu verstehen und herauszufinden, was ihrer Marke das Recht gibt, Teil des Kaufrepertoires der Verbraucher*innen zu sein, ist grundlegend, um in allen Märkten zu gewinnen. Die drei grössten Hürden für amerikanische Marken auf dem europäischen Markt sind ein gutes Zielgruppenverständnis, die Skalierung des Vertriebs und ein ausreichender Share of Voice. Hinzu kommt, dass amerikanische Exportmarken den «gemeinsamen Markt» der EU nicht als einen singulären Markt sehen dürfen, sondern als ein komplexes, dynamisches Kollektiv unterschiedlicher Einstellungen, Verhaltensweisen, Bräuche, Kulturen sowie Sprachen und sozialer Normen. Für die diversen europäischen Märkte gilt: «There is no one size fits all».

 

 

Früher schauten die Europäer*innen in die USA, um neue Medien und digitale Trends zu entdecken. Heute schauen wir nach Asien. Wohin schauen die US-Medienexpert*innen?

 

Phil Cowdell: Gute Ideen und aufschlussreiches Denken gibt es im Grossen und im Kleinen, in der Nähe und in der Ferne. Wir sollten immer offen sein, zu erforschen und zu lernen – ohne Vorurteile oder Voreingenommenheit. Ich bewundere zum Beispiel grosse Unternehmen wie Unilever, P&G oder Kimberly Clark, die sich immer wieder für Offenheit und Neugierde einsetzen – mit Mantras wie «Search and Reapply» und «Steal with Pride». Marketer müssen permanent neugierig bleiben und aus der Gegenwart für die Zukunft lernen

 

 

Was können europäische Medienexpert*innen von den Vereinigten Staaten lernen und umgekehrt? Was können wir alle von Asien lernen?

 

Phil Cowdell: Mit dem Silicon Valley und der Westküste als Geburtsstätte der meisten weltweit genutzten digitalen Plattformen und Anwendungen und der damit verbundenen Zugänglichkeit zu Talent und Kapital sind die USA immer noch der herausragende Standort für Medieninnovationen – sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft. China ist wohl der nächste grosse bedeutende Innovationsstandort. Durch den stark kontrollierten Heimatmarkt und den starken Einfluss der Kommunistischen Partei ist China jedoch eher ein Sonderfall, mit dem ein direkter Vergleich schwierig ist. Peter Diamandis und Steven Kotlers haben es in ihrem Buch «The Future is Faster than you Think» beschrieben: Wir müssen überall und global nach Innovationen suchen mit speziellem Fokus auf Akteur*innen, die mehrere disruptive Technologien verbinden. Dieser Kombinations-Effekt ist das, was der Zukunftsforscher Ray Kurzweil als Quanten-Disruption und das Law of Accelerating Returns bezeichnet. Lasst uns alle von allen lernen.

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