Sind Unternehmen in der Pflicht?

Social Media hat einen unfassbar starken Einfluss auf uns Menschen. Doch wer übernimmt die Verantwortung für das Verhalten auf Social Media? 

 

2021 durchbrach die Zahl der Social-Media-Nutzer*innen die 4,5 Milliarden-Grenze. Damit sind 57,6 Prozent der gesamten Weltbevölkerung auf Social Media aktiv. Im vergangenen Jahr kamen circa 409 Millionen zusätzliche Nutzer*innen hinzu, was etwa 13 neuen Usern pro Sekunde entspricht. Nach nur wenigen Likes kann Facebook die politische und sexuelle Einstellung von Nutzer*innen bestimmen. All dies zeigt: Social Media ist ein fester Teil unserer Gesellschaft geworden und hat einen unfassbaren Einfluss auf Menschen weltweit.

 

Bereits 1953 wurde mit dem Begriff «Corporate Social Responsibility (CSR)» der «social contract» zwischen Unternehmen und der Gesellschaft beschrieben: Konsument*innen erwarten, dass Unternehmen verantwortungsvoll und ethisch-moralisch handeln. Wie sieht das fast 70 Jahre später aus? Obwohl Social Media nicht wegzudenken ist, scheinen sich weder individuelle Nutzer*innen noch Unternehmen der Verantwortung, mit der die Nutzung einhergeht, bewusst zu sein oder sich damit befassen zu wollen. Zeitgleich geraten die Plattformen selbst immer tiefer in Kritik. Eine Frage unserer Zeit lautet also: Wer übernimmt die Verantwortung für das Verhalten auf Social Media? Sollten Unternehmen genauso in die Pflicht genommen werden? Ein Für und Wider:

 

Ja! – Unternehmen sind in der Pflicht.

 

1.       Unternehmen haben die Chance, Einfluss auf Plattformen zu nehmen

 

Die Kampagne #StopHateforProfit (2020) hat gezeigt: Unternehmen haben die Möglichkeit, eine klare, starke Haltung zu zeigen und Social Media Responsibility zu übernehmen. Responsibility bedeutet, dass man Autorität über jemanden/etwas hat und zeitgleich eine Pflicht eingeht. Die Plattformen leben von Werbeeinnahmen. Geld, das von Unternehmen in Social Media investiert wird. Damit können Unternehmen Autorität auf Plattformen ausüben. Diese sollten sie nutzen, um zu vermeiden, dass die Verantwortung und damit auch die Entscheidungsmacht bei einer einzigen Instanz – der Plattform – liegt.

 

2.       Unternehmen tragen die Verantwortung für die Gesundheit und Unversehrtheit der Nutzer*innen mit

 

In Deutschland ist die Schutzbedürftigkeit gesetzlich verankert: Unternehmen ist es untersagt, Alter, die geschäftliche Unerfahrenheit, Leichtgläubigkeit oder die Angst von Verbraucher*innen auszunutzen. Damit sind auch Kinder und Jugendliche tabu. Doch viele Unternehmen wollen mit Social Media gerade die ganz junge Zielgruppe erreichen, was sich auch in der Zunahme von Werbeaktivitäten auf TikTok zeigt. Auch wenn die Nutzung offiziell erst ab 13 Jahren zulässig ist, tummeln sich zahlreiche jüngere Nutzer*innen auf den Plattformen. 24 Prozent der 10- bis 11-Jährigen sind bei TikTok, 44 Prozent der 12- bis 13-Jährigen auf Instagram und bei den 14- bis 15-Jährigen sind bereits 70 Prozent auf Instagram. Genau in der Lebensphase, in der das Konsumverhalten geprägt wird, wird den jungen Leute über Influencer*innen-Kanäle ein materialistischer Lebensstil vorgelebt. Zu Gunsten des Profits von Unternehmen, denn schliesslich hat bereits die Hälfte der 14- bis 19-Jährigen etwas auf Grund von Influencer*innen-Promotions online bestellt. Genau deshalb stehen Unternehmen hier in der Pflicht, nicht rein profitorientierte, sondern auch moralische Entscheidungen zu treffen.

 

Unterschiedliche Studien belegen zudem einen Zusammenhang zwischen der Nutzung von Social Media und der Zunahme von Depressionssymptomen. Social-Media-Plattformen haben das Potential, süchtig zu machen. Die «Fear of missing out» (FOMO) gebündelt mit dem Nervenkitzel des Unbekannten, dass wir bei jedem eigenen Post nicht wissen, wie viele, wer, wie darauf reagiert.

 

Von Unternehmen kann erwartet werden, dass ihnen die Schattenseiten von Social Media bewusst sind und sie entsprechend Verantwortung zeigen.

 

3.       Unternehmen können durch aktives Community Management Hate-Speech reduzieren

 

Fake-News, Hate-Speech, Mobbing, Trolling – für die Schattenseiten der Social-Media-Kommunikation gibt es zahlreiche Begriffe. Die echte Gefahr liegt darin, dass Social Media ein meinungsbildendes Medium ist. Nutzer*innen sagen, dass ihnen Reaktionen und Kommentare unter Beiträgen dabei helfen, Themen besser zu verstehen und sie auf der Basis ihre Meinung bilden oder ändern. Damit können Unternehmen durch aktives Community Management und einem eigenen Fakten-Check zu den Kommentaren in ihrem Feed einen Beitrag dazu leisten, dass weniger Falschaussagen ohne Richtigstellung auf Social Media kursieren und so auch aktiv Verantwortung gegen Radikalisierung tragen.

 

4.       Unternehmen können von glaubhafter Haltung profitieren

 

Social Media ist ein Schlachtfeld für politische und soziale Fragestellungen. Nutzer*innen fordern von Unternehmen Rückgrat, Haltung und Glaubwürdigkeit. Doch um das leisten zu können, müssen Unternehmen authentisch auf Social Media auftreten. Opportunismus und Purpose-Washing kann auf Social Media schnell enttarnt werden und ins Gegenteil ausschlagen. Eine klare und gelebte Haltung ermöglicht es Unternehmen, sich von Wettbewerbern abzugrenzen und Sympathiepunkte bei den Nutzer*innen zu sammeln.

 

Nein! – Unternehmen haben primär ein wirtschaftliches Interesse und Social Media ist eine Werbeplattform

 

1.       Die Produktverantwortung liegt im ersten Schritt bei der Plattform

 

Die Produkthaftung und damit auch die Verantwortung liegt bei klassischen Produkten zwischen dem Hersteller und dem Kunden. In diesem Fall bei der Plattform und den Nutzer*innen. Die Plattformen stellen das Gerüst bereit, dass von Nutzer*innen verwendet und gefüllt wird. Deshalb sollten Unternehmen hier nicht zur Rechenschaft gezogen werden dürfen.

 

2.       Der richtige und gesunde Umgang mit Social Media ist eine Frage der Medienkompetenz

 

Medienkompetenz bedeutet, dass Personen Medien souverän entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse nutzen können und auch in der Lage sind, die Inhalte kritisch zu bewerten. Damit ist Medienkompetenz die Lösung für das Dilemma der Social Media Responsibility. Die Verantwortung liegt bei den Empfänger*innen der Nachricht und nicht bei den Absender*innen. Es müssen also diejenigen in die Pflicht genommen werden, die für die Vermittlung von Medienkompetenz verantwortlich sind: Eltern für ihre Kinder oder auch das Bildungssystem.

 

3.       Social Media ist eine Marketing-Plattform

 

Shareholder, Arbeitnehmer*innen, Behörden, etc. erwarten von Unternehmen wirtschaftlich zu handeln, um Arbeitsplätze, Investitionen und Gewinne zu sichern. Da auch Marketing zur Absatzsteigerung beiträgt, sind auch soziale Medien, die schlussendlich Marketingplattformen sind, entscheidend. Produktwerbung und unrealistische Schönheitsideale waren auch vor Social Media, beispielsweise in Zeitschriften und TV, präsent. Während auf Social Media Anzeigen und Influencer*innen-Kooperationen kenntlich zu machen sind und Absender*innen schnell identifiziert werden können, ist es in klassischen Produktplatzierungen sogar schwerer, für die Nutzer*innen zu erkennen, dass es sich gerade um Werbung handelt. Aus diesem Grund sollten Unternehmen auf Social Media nicht mehr Verantwortung tragen müssen als auf allen anderen Medienkanälen.

 

4.       Unternehmen sollen die Meinungsfreiheit nicht eingrenzen

 

Social Media zeigen bereits im Namen, dass es sich um gemeinsame Medien der Gesellschaft handelt. «Social» bezieht sich darauf, dass unterschiedliche Menschen in einer organisierten Art und Weise miteinander leben. Diese «organisierte Art und Weise» wird bestimmt durch die AGBs der einzelnen Social-Media-Plattformen. Sie regeln, welche Richtlinien Nutzer*innen zu befolgen haben und welche Grenzen es für die Meinungsfreiheit auf Social Media gibt. Aus diesem Grund ist es nicht in der Verantwortung von Unternehmen, auf eigener Ermessensgrundlage Posts von Nutzer*innen zu löschen, wenn diese nicht gegen die AGBs verstossen.

 

5.       Es liegt in der Verantwortung der Nutzer*innen, mögliche Einstellungen und Features für sich zu nutzen.

 

Social Media ist user-centric und gibt deshalb den Nutzer*innen die Möglichkeit, das Netzwerk genau so zu gestalten, wie es für sie am zielführendsten ist. Durch X-out-Features können Werbeanzeigen begrenzt werden, durch Datenschutzeinstellungen die Privatsphäre geschützt, durch Benachrichtigungseinstellungen die Bildschirmzeit kontrolliert und durch das Melden von Beiträgen die Hate-Speech und Fake-News reduziert werden. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt von Möglichkeiten, die Nutzer*innen haben, um Verantwortung auf Social Media und für ihren eigenen gesunden Umgang damit zu nehmen. Es liegt in der Verantwortung der Nutzer*innen, diese Features zu verwenden. Schliesslich ist der Anspruch sehr divers: Es gibt Nutzer*innen, die die Hyperpersonalisierung von Werbeanzeigen für ihren Vorteil nutzen, um Recherchezeit zu sparen und auf günstige Angebote aufmerksam gemacht zu werden. Und dann gibt es solche Nutzer*innen, die auf Social Media sind, um mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben und kein Interesse an Firmeninhalten haben. Dadurch, dass die Anforderungen so individuell sind, liegt es nicht in der Verantwortung der Unternehmen, allen Ansprüchen gerecht zu werden.

 

Was die Gegenüberstellung zeigt: Verantwortung muss geteilt werden. Die Plattformen schaffen es nicht ohne die Nutzer*innen, die Nutzer*innen nicht ohne Unternehmen, die für sie einstehen, und Unternehmen nicht ohne Plattformen und Nutzer*innen, die sie darin bestärken und die Voraussetzungen schaffen. Damit liegt die Verantwortung nicht bei einem Einzelnen, sondern ist geteilt – alle müssen sich bewusst sein, welchen Beitrag sie leisten können und sollen.

 

Was Unternehmen tun können, um im Alltag mehr Social Media Responsibility zu zeigen:

 

1.       Unternehmen können auf ein aktives Community Management setzen, um nicht nur ihre eigene Marke, sondern auch die Richtigkeit der Statements unter ihren Beiträgen zu prüfen. Unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit ist das Löschen nicht immer notwendig, aber einer von Autor*innen geposteten Antwort mit einer Richtigstellung steht nichts im Wege. Es ist das «Hausrecht» der Marke, darauf zu pochen, dass die eigenen Werte respektiert werden. .

 

2.       Vor der Veröffentlichung von eigenen Inhalten können Unternehmen die extra Runde für den Compliance-Check drehen, um sicherzugehen, dass veröffentlichte Fakten korrekt sind.

 

3.       Bei der Kommunikation an junge Zielgruppen können Unternehmen auf Anzeigen verzichten, um dem Schutz dieser gerecht zu werden. Wenn junge Zielgruppen angesprochen werden, sollte auf Vielfalt und lehrreiche Inhalte gesetzt werden und keine reine Darstellung von Konsum und materialistischen Lebensstilen.

 

4.       Influencer*innen-Kooperationen können neu gedacht werden. Anstatt auf reichweitenstarke Influencer*innen kann auf authentische Markenbotschafter*innen gesetzt werden.

 

5.       Wenn sich Unternehmen dazu entscheiden, Haltung auf Social Media zu zeigen, sollten sie es ganzheitlich machen und nicht nur opportunistisch vorgehen, wenn es von der Gesellschaft erwünscht ist. Guidelines können dabei unterstützen, verständlich zu machen, was einzelne Werte bedeuten und wie sich diese auf Social Media wiederfinden sollten. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass Haltung und Verantwortung nicht bei Social Media beginnen, sondern bei dem Produkt und der Marke selbst. «Value Workshops» können dabei unterstützen, allen Beteiligten bewusst zu machen, wofür man als Unternehmen stehen möchte.

 

Wenn es darum geht, Haltung zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen, brauchen Menschen Gelegenheit, Motiv und eine persönliche Rechtfertigung (analog zum «Fraud-Triangle», in dem es darum geht, illegalen oder korrupten Handlungen nachzugehen). Es bedarf einer Gelegenheit, die beispielsweise von den Plattform-Anbietern durch AGBs, Features und Anlaufstellen oder auch von Unternehmen durch Netiquetten geschaffen werden kann. Es braucht ein Motiv und eine Überzeugung, Verantwortung übernehmen zu wollen, aber auch das Know-how und das Wissen dazu. Zudem braucht es eine persönliche Rechtfertigung, die uns darin bestätigt, dass der eingeschlagene Weg richtig ist, auch wenn er am Anfang vielleicht einige Opfer mit sich bringt. Vielleicht setzt dieser Bericht genau hier an und bietet Unternehmen ein Motiv und eine persönliche Rechtfertigung, um ebenfalls Verantwortung auf Social Media mitzutragen..

 

Disclaimer: Social Media ist nicht gleich Social Media. International gibt es Unterschiede in Bezug auf Zensur, Datenschutz, Features und Plattformen. Die Darstellung in diesem Bericht bezieht sich auf eine europäische Perspektive auf Social Media.

 

Autorin: Alexandra Braun, Head of Strategy & Analytics Plan.Net NEO

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